14. März 2015
Elektronik macht es möglich. Dieser Tage erhielt ich für 24 Stunden ein tragbares Blutdruckmessgerät, das Tag und Nacht alle 20 Minuten meinen Blutdruck automatisch misst und die Daten aufzeichnet. Wie fühlt man sich dabei?
Warum eine Langzeitblutdruckmessung? Eine einzige Blutdruckmessung hat eine relativ geringe Aussagekraft, ob ein Patient tatsächlich unter Bluthochdruck leidet und deshalb Medikamente braucht. Etwa 1/3 der Patienten sollen in den Arztpraxen einen höheren Blutdruck als sonst haben. Deshalb ist es sinnvoll den Blutdruck über einen ganzen Tag verteilt zu messen. Eine Werbeschrift eines solchen automatischen Blutdruckmessers behauptet sogar, dass sich die Kosten für Blutdruckbehandlung dadurch insgesamt um 1/3 senken lassen würden.
Automatischer Blutdruckmesser für Langzeituntersuchungen.
Das schwedische Gesundheitssystem kurz und knapp erklärt: Das ist natürlich das schlagende Argument für das auf Kosteneffizienz ausgerichtete schwedische Gesundheitssystem, das in staatlicher Hand ist. Privat niedergelassene Ärzte gibt es so gut wie keine. In der Regel wendet man sich an eine Art Poliklinik. Hat man ein Problem, ruft man dort an und befolgt die Anweisungen des Anrufbeantworters. Ein paar Stunden später wird man zurückgerufen, klagt sein Leid und mit etwas Glück bekommt man noch am gleichen Tag einen Arzttermin. Aber nicht immer. Wegen einer Grippe, vorübergehenden Hustens und Schnupfens gibt es keinen Arzttermin, weil diese Krankheiten meistens ja irgendwann von alleine verschwinden. Abgesehen davon sind sie ansteckend, weshalb man lieber daheim bleiben soll. Hausbesuche macht ein Arzt überhaupt nicht. Bei einem Noftall ruft man den Krankenwagen, der dann in den einsamen Gegenden auch mal über eine halbe Stunde auf sich warten lässt.
Es gibt einen genauen Katalog, der beschreibt, wann welcher Patiententyp wie lange schon welche Symptome haben muss, damit sich ein Arztbesuch lohnt. Dies alles kann man alles im Internet auf offiziellen Seiten nachlesen. Da steht zum Beispiel, wenn man mindestens 3 Wochen eine niedergeschlagene Stimmung hat, könnte man eine behandlungsbedürftige Depression haben und dann ist ein Arzttermin angeraten.
So etwa funktioniert in groben Zügen das schwedische Gesundheitssystem aus Patientensicht. Jeder Schwede, der auch in Schweden wohnt, ist automatisch krankenversichert. Wer kein Geld verdient, muss keine Krankenversicherung zahlen. Ansonsten wird das Geld für die Gesundheitskosten automatisch im Zuge der Einkommensteuer abgebucht. Der ganze Papierkram entfällt dadurch. Ein Arztbesuch kostet allerdings einen Eigenanteil von etwa umgerechnet 15 Euro. Es gibt eine Obergrenze von etwa zusammengerechnet 200 Euro pro Jahr für Medikamente und den übrigen Gesundheitskosten, die als Eigenanteil nicht überschritten werden. Nur bei der Zahnbehandlung ist der Eigenanteil sehr hoch. Meistens muss der Patient sämtliche Kosten aus der eigenen Tasche zahlen. Trotzdem vergeht selbst mit sichtbaren Zahnlücken den Schweden das Lächeln nicht.
Bei einem Arztbesuch wird gerne routinemäßig der Blutdruck gemessen. Und der scheint bei mir stark zu schwanken. Das liegt daran, weil die schwedische Mentalität auf Pünktlichkeit versessen ist. Warten bedeutet Stress nach schwedischer Vorstellung. Deshalb sind die Warteräume, die oft ganz kuschelig mit Sesseln und Sofas wie ein Wohnzimmer bestückt sind, meistens leer. Hat man einen Arztermin für übernächste Woche Donnerstag 14:15 per schriftlicher Einladung erhalten, dann kommt man auch um 14:15 auf die Minute genau an die Reihe. Selten muss man mal 10 Minuten warten und dann entschuldigt sich der Arzt oder die Ärztin vielmals. Aber ich bin ein „gelernter Deutscher“ mit der Tendenz etwas zu spät zu kommen. Manchmal komme ich dann doch recht abgehetzt in die Praxis und entsprechend hoch ist dann mein Blutdruck nach den 200 Metern Dauerlauf vom Parkplatz. Eigentlich ist doch körperliche Bewegung gesund und man soll mindestens ein Mal pro Tag ins Schwitzen kommen.
Kein Entrinnen vor der Untersuchung: Eines Tages bekam ich dann einen Brief, wann ich mich wo für so eine Langzeitblutdruckmessung einfinden soll. Ich rief an und sagte, dass ich leider keine Zeit hätte. Drei Wochen später rief mich eine Krankenschwester an, ob ich den nächste Woche Zeit hätte, wozu ich mich dann überreden ließ. Ist man einmal in den Fängen des schwedischen Gesundheitssystems, kommt man von ihnen so leicht nicht wieder los. Wie üblich wurde der Termin nochmals schriftlich in Form einer Art „Einberufungsbescheid“ bestätigt.
Der kleine Kasten mit der Luftpumpe, der Elektronik und den Batterien.
Die Vorderseite des Kastens. Erstaunlich, dass 4 AA-Akkus für 24 x 3 Messungen = 72 Messungen (also alle 20 Minuten) ausreichen.
Die Rückseite. Hier erfahre ich sogar den Vertriebshändler.
Die kleine Tasche wird in den Gürtel gehängt.
Alles mit in eine Plastiktüte verpackt. So darf ich die Ausrüstung samt meines Protokolls dann wieder abgeben. Dafür habe ich umgerechnet 10 Euro zahlen müssen.
Die 24-Stunden-Messung im praktischen Alltag: Also erschien ich dann pünktlich um 8:30 am besagten Tag und ließ mir den Apparat umschnallen. Am Gürtel hing nun ein kleiner Kasten, von dem ein Schlauch zur Druckmanschette am linken Oberarm führte. Ich entschloss mich dafür an diesem Tag von zu Hause aus zu arbeiten und mich mit Programmierung zu beschäftigen. Das war ein Fehler. Alle 20 Minuten fing nun dieses Ding an zu piepsen, um mich vor dem Aufpumpen der Manschette zu warnen. Dabei wird der Arm ordentlich gedrückt. Nach einer Minute entweicht wieder die Luft und das Ende der Messung wird durch einen Piepston quittiert. So geht das also den ganzen Tag alle 20 Minuten. Geistige Arbeit ist kaum möglich, wenn Gedankengänge immer wieder unterbrochen werden. So ist das vielleicht, wenn jemand an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leidet. Da kommt Frust auf, was vielleicht auch meinen Blutdruck beeinflusst. Selbst bei körperlicher Arbeit ist der linke Arm behindert. So kann niemand eine Platine mit SMD-Bauteilen bestücken, wenn sich plötzlich wieder die Manschette einem den Arm abdrückt. Das macht alles keinen Spaß. Und dann soll man noch alle wichtigen Ereignisse aufschreiben, zum Beispiel wenn man von seinem Chef getadelt wird oder einen Lottogewinn macht.
Um auf andere Gedanken zu kommen, entschloss ich mich gegen 18:00 für einen kurzen Waldlauf von einer viertel Stunde. Sicherlich ist es auch interessant zu wissen, wie mein Blutdruck darauf reagiert, damit sich die ganze Qual auch lohnt.
Gegen 22:00 lege ich mich aufs Bett um mir einen Film auf meinem Tablet-PC anzuschauen. Ich schlafe dabei ein. Aber dann werde ich durch das Aufpumpen der Manschette geweckt. Ich merke, dass es keinen Sinn macht dieses Gerät die ganze Nacht anzubehalten. Ich schnalle diesen Blutdruckmesser ab und auf einmal fühle ich mich ganz entspannt. Selten habe ich die Nacht so gut durchgeschlafen.
Und wie geht es weiter? Wahrscheinlich werde ich in den nächsten drei Wochen einen freundlichen Brief von einem Arzt erhalten, der mich im vertrauten und üblichen „Du“ mit Vornamen anschreibt und meint, dass ich keine Medikamente bräuchte, lieber mehr Sport treiben sollte und vielleicht noch etwas abnehmen. Statistisch gesehen senken nämlich diese Maßnahmen erheblich die Gesundheitskosten. Auf jeden Fall schont Gelassenheit den Blutdruck.
Nachtrag vom September 2019: Das waren damals (2015) noch Zeiten, da hatte man sich noch einigermaßen gut im schwedischen Gesundheitssystem augehoben gefühlt. Inzwischen ist das Gesundheitswesen in Schweden den Bach heruntergegangen, wozu die rot-grüne Politik von Traumtänzern, die unbedingt Schweden als humanitäre Supermacht sehen wollen, nur 4 Jahre gebraucht hat. Wartezeiten in der Notaufnahme bis zu 22 Stunden, Krebspatienten, die während der Wartezeit auf ihre Behandlung versterben, Ärzte die ein miserables Schwedisch sprechen. Bei jedem Arztbesuch ein anderer Arzt, der keine Zeit hat sich die Krankenakte durchzulesen, weil die Dokumentation zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Entbindungsabteilungen werden auf dem Land geschlossen. Dafür gibt es Kurse, wie man Kinder im Auto zur Welt bringt. Dieser Tage brachte eine Frau ihr Kind auf dem Parkplatz vor der Entbindungsstation auf die Welt, weil trotz Hupen und Klingeln sich niemand verantwortlich fühlte die Tür der Station zu öffnen. In Schweden gilt der Grundsatz, dass alle Verantwortlich sind, was sehr schön klingt, aber nur Gelaber ist. In der Praxis fühlt sich dadurch niemand verantwortlich.